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Etwas Besseres als die Festanstellung finden wir allemal

Dies ist die Website und das Blog zum Buch "Wir nennen es Arbeit – die digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung" von Holm Friebe und Sascha Lobo. Das Buch handelt davon, wie eine neue Klasse von Selbstständigen mit Hilfe digitaler Technologien dem alten Traum vom selbstbestimmten Arbeiten in selbstgewählten Kollektivstrukturen ein gutes Stück näher kommt. Das Blog schreibt das Buch fort, gibt Updates zu den einzelnen Kapiteln und informiert über neueste Entwicklungen und Frontverläufe im Kampf um den Individualismus 2.0.

Vorwort zur Hardcover-Ausgabe

Unsere gemeinsame Vorgeschichte, und damit die Vorgeschichte dieses Buchs, beginnt etwa um das Jahr 2001 herum. Die New Economy war gerade zusammengebrochen und hatte uns in ihrer Spätphase unabhängig voneinander tiefe Einblicke in die Unternehmens- und Arbeitswelt beschert. Wir waren hin und her getaumelt zwischen Internet-, Trend- und Werbeagenturen, die heisse Luft mit je nach Bedarf angepasster Temperatur verkauften. Es hatte anfangs durchaus Spass gemacht. Dann war es unbequem geworden. Und danach standen wir beide wieder auf verschiedenen Seiten der Trümmer. Wir lernten uns kennen über ein textlich ambitioniertes Internet-Forum, hoeflichepaparazzi.de, das ursprünglich für Schilderungen zufälliger Prominentenbegegnungen ausgelegt war, bald aber zu einer Enzyklopädie aller Lebenslagen ausuferte und zu einer grossen Sozialmaschine wurde. Unterschiedliche Menschen mit ähnlicher Geisteshaltung lernten sich kennen und schätzen, die sich sonst nie begegnet wären.

Unser Lebensgefühl im Berlin der Post-New-Economy-Ära war stark geprägt durch diese neue soziale Dynamik, und wir verdienten Geld nebenbei, indem wir Artikel für Zeitungen schrieben, uns als Freelancer in Agenturen verdingten und uns gegenseitig Jobs zuschoben. Parallel dachten wir in grösserer Runde über den Aufbau eigener Strukturen nach, die alles Gute und Sinnvolle einer Firma beinhalten sollten, ohne das Schlechte und Nervende, das wir zuvor ausreichend kennen gelernt hatten.

So entstand die Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA) als virtuelle Firma und Netzwerk von Freiberuflern. Sie existiert nur auf einem Server und in den Köpfen der daran beteiligten »Agenten« und »Inoffiziellen Mitarbeiter«, wie die offiziellen Titelbezeichnungen lauten. Obwohl das Ganze anfänglich eher als »ironische Firma« oder Parodie eines richtigen Unternehmens wahrgenommen wurde, hat die ZIA mittlerweile mehrere Metamorphosen durchlaufen, ihre Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit immer wieder unter Beweis gestellt und leistet so bis heute gute Dienste als gemeinsame Operationsplattform.

Wenn wir – was nun wieder gelegentlich vorkam – von den Unternehmen, für die wir arbeiteten, Angebote für Festanstellungen bekamen, durchaus gut dotiert und mit scheinbar grossem Gestaltungsspielraum, sagten wir jedes Mal ab. Wir bemerkten, dass es gar nicht unbedingt Zuschnitt und Ausgestaltung der einzelnen Posten waren, die uns abschreckten, sondern das System Festanstellung selbst.

Jede Form der abhängigen Lohnarbeit wäre für uns der »milden Krankheit« gleichgekommen, als die auch der Philosoph Frithjof Bergmann sie beschreibt: »Eine Zeit, in der man nicht wirklich lebt, man zählt nur die Wochen und Monate, bis es vorbei ist.« Die Vorstellung, genau zu wissen, wo man den übernächsten Dienstag von zehn bis neunzehn Uhr verbringen wird, wird nicht schön durch einen monatlichen Scheck. Sie wird nur erträglicher. Wir hatten aber keine Lust mehr, den Weg des geringsten Leids zu gehen; wir wollten den Weg der grössten Freude. Besonders bei der Arbeit.

Aus diesem Gefühl heraus entstand im Sommer 2005 die Idee, ein Buch über unsere Lebenseinstellung und Arbeitsweise zu schreiben. Jetzt tauchte die Frage auf: Inwieweit liessen sich unsere Erfahrungen auf einen grösseren gesellschaftlichen Rahmen übertragen?

Eine kurze Zählung im Freundeskreis ergab einen Freiberufleranteil von 90 Prozent, also eigentlich alle ausser einem, Philipp. Natürlich war das eine gesellschaftlich vollkommen irrelevante Zahl, vor allem, weil die Zählung in einer Kneipe um halb vier Uhr morgens in der Nacht von Montag auf Dienstag stattfand. Aber irgendwie war genau das der Punkt. Kein Vertreter der Millionen Angestellten konnte unsere Zählung entkräften, weil sie – bis auf Philipp – längst im Bett lagen und ein paar Stunden später wieder im Büro sein mussten. Waren wir einem Phänomen auf der Spur oder überhöhten wir unseren überschaubaren Berliner Nahbereich mythisch, um dem Versacken an Wochentagen eine gesellschaftstheoretische Grundlage zu verpassen?

Als der Herbst gekommen war, erkannten wir, dass wir das Untersuchungsfeld ausdehnen und obendrein die Technik und ihre soziale Komponente hinzudenken mussten. Sie waren uns selbst so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir ihre Bedeutung für unser Thema – gemäss dem polnischen Sprichwort »Unter der Laterne ist es am dunkelsten« – lange Zeit übersehen hatten. Wohin wir auch sahen, in Bücher, Zeitschriften und vor allem ins Netz: Überall gab es Anzeichen dafür, dass immer mehr Menschen so lebten wie wir. Es war an der Zeit, das »So wie wir« endlich zu definieren und einen Begriff dafür zu finden. Die Definition fand sich schnell: So arbeiten, wie man leben will, und trotzdem ausreichend Geld damit verdienen; das Ganze ermöglicht und befördert durch das Internet, und zwar auch in Bereichen, die auf den ersten Blick nichts mit dem Netz zu tun haben.

Wesentlich schwieriger gestaltete sich das Unterfangen, einen Begriff für diese Leute zu finden, der sowohl die soziologischen als auch die technologischen Aspekte abbildete. Schliesslich kamen wir auf die »digitale Bohème«, eine Bezeichnung, die nicht gleich einschlug, uns jedoch um die Beine strich wie ein flauschiger, aber hässlicher Hund.

Wir sahen ihn nicht an, doch mit einem Mal hatte er sich in unser Herz gekuschelt. Inzwischen ist der Hund auch gar nicht mehr hässlich, das wirkte nur so, weil Vorder- und Hinterteil scheinbar nicht zusammenpassen.

Die digitale Bohème begreifen wir nicht als Gegenstück, sondern als Weiterentwicklung der analogen Bohème. Die analoge Bohème, das waren Menschen, die die Nacht zum Tag und ihr Leben zur Kunst machten und deshalb am Existenzminimum lebten. Früher war die Gesellschaft starrer und die Arbeitswelt restriktiver. Wenn man sich nicht in die Strukturen fügte, verdiente man kein Geld. Also waren Leute, die lebten, wie sie wollten, und nicht, wie sie sollten, arm. Heute muss das nicht mehr so sein, und dass es nicht mehr so ist, verdanken wir zu einem grossen Teil der Entwicklung des Internet und dem Übergang von einer analogen zu einer digital orientierten Kultur. Die digitale Bohème, das sind Menschen, die sich dazu entschlossen haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dabei die Segnungen der Technologie herzlich umarmen und die neuesten Kommunikationstechnologien dazu nutzen, ihre Handlungsspielräume zu erweitern.

Entlang der Begriffe »Bohème« und »digital« ist das Buch grob in zwei Teile untergliedert. Bevor wir im zweiten Teil stärker auf die technologischen und ökonomischen Aspekte der digitalen Bohème eingehen, werden im ersten Teil die historischen und soziologischen Fundamente gelegt.

Im »Prinzip Bohème« tauchen wir in die Vorgeschichte der Bohème als Wirtschaftsfaktor ein und zeichnen den Übergang von der analogen zur digitalen Bohème nach. »Der unflexible Mensch« handelt vom Gegenteil, von der derzeitigen Angestelltenwelt und ihrem insgesamt miserablen Zustand. Die »Währung Respekt« erläutert ein Grundprinzip der digitalen Bohème, die andere als rein finanzielle Währungen und Kapitalformen kennt. Auf die praktischen und organisatorischen Probleme dieser Lebensform gehen wir in »Work in Projects« ein, wo auch erläutert wird, wie sich die früher übel beleumundeten Projektemacher zu wirtschaftlichen Taktgebern entwickelt haben. In »Bohème und Big Business« loten wir die jüngsten Frontverläufe zwischen Kommerz und Kultur, Subversion und Marketing aus und verfolgen die Frage, wer hier eigentlich wen benutzt. »Place Does Matter« richtet den Blick auf das Areal des Realen und die Bedeutung von Orten, wobei der Tatsache Rechnung getragen wird, dass auch der digitale Raum immer lokaler wird und mit der Benutzeroberfläche der Stadt verschmilzt. Von Interfaces und dem Internet handelt »Das soziale Netz«; davon, dass das World Wide Web als Web 2.0 wieder stärker zu seinem sozialen Ursprungscharakter zurückfindet.

Für das anschliessende Kapitel »Kommunizierende Röhren«, das mit den Blogs eine der wichtigsten Säulen des Web 2.0 behandelt, haben wir mehr als 50 Blogger und Blogexperten befragt. Dieser subjektiv ausgewählte, aber aussagekräftige Querschnitt trägt zu einem besseren Verständnis der deutschsprachigen Blogosphäre bei, die im internationalen Vergleich noch ein wenig hermetisch wirkt. Dass sich mit Blogs und anderen Geschäftsmodellen der digitalen Bohème durchaus Geld verdienen lässt, zumindest indirekt, zeigen wir im Kapitel »Virtuelle Mikroökonomie«, wo wir die grundlegende wirtschaftliche Mechanik der digitalen Bohème an einigen Beispielen illustrieren. Diese wirtschaftlichen – aber auch viele gesellschaftliche – Grundmuster werden sich in Zukunft noch stärker in den komplett virtuellen Raum von Online-Spielen verlagern, die wir in »Money for Nothing« beschreiben. Im letzten Kapitel »Die parallele Gesellschaft« versuchen wir schliesslich, unsere Beobachtungen in einen grösseren gesellschaftlichen Rahmen einzubauen, und wagen einige Schlüsse darüber, wie die digitale Bohème nicht nur die Kultur und das Stadtbild, sondern die Arbeitsgesellschaft als Ganzes verändern könnte.

Wir glauben – und glauben es jetzt, wo wir das Buch abgeschlossen haben, noch mehr als zu Anfang –, dass es Alternativen gibt zum erstarrenden System der festangestellten Erwerbsarbeit, die uns neben der Massenarbeitslosigkeit auch eine Massenunzufriedenheit beschert hat. Und wir glauben, dass noch viel mehr Menschen nach den Regeln der digitalen Bohème selbstbestimmt arbeiten und leben können und werden. Die Individualisierung, die der wichtigste gesellschaftliche Trend des 20. Jahrhunderts war, könnte damit im 21. Jahrhundert erst ihre eigentliche Qualität offenbaren: indem Individuen ihre Individualität nicht mehr nur über den Konsum, sondern auch darüber entfalten, was, wann und wie sie arbeiten. Die digitale Bohème bedeutet aber nicht Einzelkämpfertum, sondern dass neue freiwillige Gemeinschaften jenseits der bürgerlichen Sphären von Nation, Unternehmen und Familie entstehen. Auch wenn Eigenverantwortung und Bürgersinn darin eine Rolle spielen, ist sie eher als Gegenentwurf zu Neoliberalismus und neuer Bürgerlichkeit zu verstehen.

Wie das im Einzelnen in der Zukunft funktionieren wird, ist uns selbst in vielen Punkten noch unklar, insbesondere die Fragen, wie sich unser Konzept mit den Komplexen »schwächelnde Sozialsysteme« und »alternde Gesellschaft« verträgt. Vieles wird man unterwegs herausfinden müssen. Wir wollten zunächst einmal die Chancen, die sich ergeben, für diejenigen aufzeigen, die davon unmittelbar profitieren können. Vielen aus der jüngeren Generation braucht man diese Verheissung nicht nahe zu bringen, weil sie sie ohnehin verspüren und längst entschlossen sind, ihr Leben danach einzurichten. Ihnen kann das Buch aber als Argumentationshilfe gegenüber der älteren Generation dienen, die nicht einsehen möchte, dass die Praktiken der digitalen Bohème auch eine Form der Arbeit darstellen – und wahrscheinlich eine zukunftsträchtigere als die heute immer noch propagierte.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies ist kein Berlin-Buch und auch kein Buch über Berlin, auch wenn wir hier leben und arbeiten und viele Beispiele aus dem unmittelbaren und erweiterten Umfeld heranziehen. Wir haben uns um einen neutralen Blick auf die Dinge bemüht, der bis ins Ausland reicht, dabei aber einen eindeutigen Fokus auf den deutschsprachigen Raum legt. Es mag sein, dass in Berlin schon allein wegen der sprichwörtlich niedrigen Lebenshaltungskosten vieles möglich ist, das in anderen Städten schwieriger zu realisieren wäre. Aber die grundlegenden Mechanismen dahinter sind global, ebenso wie die sozialen Trends. Das meiste von dem, was wir beschreiben, findet ohnehin im digitalen Raum statt. Genauso wenig ist dies ein Generations-Buch, das nur das Lebensgefühl der Um-die-30-Jährigen anspricht. Zwar gibt es eine natürliche Tendenz dahin, dass neue Techniken und Lebensweisen zuerst von den Jüngeren erprobt und übernommen werden, aber auch eine wachsende Anzahl von Menschen jenseits der 40, 50 oder 60 erkennt und nutzt die sich ergebenden Freiheiten. Dennoch wollen wir nicht verschweigen, dass vieles in diesem Buch unseren eigenen Erfahrungen entstammt.

Während wir im Frühjahr und Sommer 2006 an diesem Buch schrieben, passierten einige Dinge, die wir als Bestätigung unseres Weges sehen.

Im Juni wurde unser kollektives Weblog riesenmaschine.de, in das wir ein Jahr lang viel Aufbauarbeit investiert hatten, mit dem Grimme-Online-Award, dem wichtigsten deutschen Web-Preis, in der Sparte »Kultur und Unterhaltung« ausgezeichnet. Noch im selben Monat gewann unsere Freundin und ZIA-Mitbegründerin Kathrin Passig – die auch an Entstehung und Endfassung dieses Buchs einen gehörigen Anteil trägt – bei den »Tagen der Deutschsprachigen Literatur« in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann- Preis und den Publikumspreis. Abgesehen von ihrem schönen, intelligenten Text fand auch das unorthodoxe Videoporträt der Autorin, das die ZIA produziert hatte, viel Beachtung und lenkte die mediale Aufmerksamkeit auf die Produktionszusammenhänge dahinter. Zeitungen, Radiostationen
und Fernsehredaktionen wollten irritiert wissen: »Wo kommt das alles plötzlich her?« Und wie funktionieren solche Produzentennetzwerke zwischen Kommerz und Kunst, Wirtschaft und Leidenschaft?

Ein paar Antworten auf diese Fragen finden sich auch in diesem Buch. Wir haben es unter anderem geschrieben, um Lesern, die noch unschlüssig sind, ob sie die Festanstellung an den Nagel hängen und das riskante, aber vielversprechende Leben in der digitalen Bohème wagen sollen, Mut zu machen. Aus unserer Erfahrung können wir sagen: Es lohnt sich. Wir hoffen, mit diesem Buch das nötige Rüstzeug zu liefern, auch wenn es kein Ratgeberbuch à la »In elf Schritten zur digitalen Bohème« ist.

Weil sich im Internet, von dem weite Teile dieses Buchs handeln, die Dinge schnell verändern und Jahre wie Hundejahre zählen, ist nicht auszuschliessen, dass einige der Fakten, Zahlen und Detailinformationen bald überholt sein werden (die grundlegenden Mechanismen, die wir beschreiben wollen, hoffentlich nicht). Um diesem Missstand zu begegnen, haben wir unter wirnennenesarbeit.de eine Website eingerichtet, wo das Buch gewissermassen weitergeschrieben, Fehler korrigiert und neue Entwicklungen angemessen gewürdigt werden. Auch die Links zu allen Informationsquellen aus dem Web, die wir herangezogen haben, finden sich dort und nicht im Literaturverzeichnis, weil wir es für altmodisch und albern halten, einen langen URL-Pfad von Hand abzutippen.

Wo also keine Quelle genannt wird, findet sich der zugehörige Link auf der Website zum Buch. Darüber hinaus möchten wir den Rückkanal öffnen und die Leser einladen, uns auf dieser Website ihre Meinung und Ergänzungen zum Buch mitzuteilen. Wir verstehen »Wir nennen es Arbeit« nicht als Schlussstrich unter eine abgeschlossene Entwicklung, sondern als Beitrag und vielleicht neuen Auftakt zu einer Diskussion darüber, wie wir in Zukunft leben und arbeiten wollen, und wie uns die Technik dabei behilflich sein kann.

Holm Friebe und Sascha Lobo
Berlin, August 2006