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Etwas Besseres als die Festanstellung finden wir allemal

Dies ist die Website und das Blog zum Buch "Wir nennen es Arbeit – die digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung" von Holm Friebe und Sascha Lobo. Das Buch handelt davon, wie eine neue Klasse von Selbstständigen mit Hilfe digitaler Technologien dem alten Traum vom selbstbestimmten Arbeiten in selbstgewählten Kollektivstrukturen ein gutes Stück näher kommt. Das Blog schreibt das Buch fort, gibt Updates zu den einzelnen Kapiteln und informiert über neueste Entwicklungen und Frontverläufe im Kampf um den Individualismus 2.0.

20.11.2006 | 18:07 | Holm Friebe | - Der unflexible Mensch | - Work in Projects

Lob der Unvernunft

Spät, aber doch wollen wir uns der Neuveröffentlichung ZEIT-Campus widmen, die die alte Tante des deutschen Journalismus im Rahmen ihrer Bemühungen um den akademischen Nachwuchs jüngst an die Kioske gebracht hat und die schon allein wegen Zielgruppenüberschneidung in unser Ressort fällt. Und wegen thematischer Nähe: "Immer soll ich vernünftig sein", lautet der Titel (anschaulich illustriert durch eine junge Frau, die unvernünftigerweise beim Trinken die halbe Milch daneben und über sich drüber schüttet). Unterzeile: "Die Suche nach dem perfekten Lebenslauf beherrscht das Studium. Doch zum Erfolg führen auch andere Wege." Sieh mal an! Was gibt es aus dem Innenteil zu vermelden? Die Titelgeschichte nebst Umfrage unter Studenten bestätigen das gewohnt triste Bild der hochqualifizierten, pragmatischen und unter enormen Druck stehenden "Generation Praktikum". Ablöschendes Zwischenfazit: "Die Deutungsmacht über das, was als vernünftig gilt, haben die grossen Unternehmensberatungen. Sie geben vor, was ein Lebenslauf enthalten muss, und prägen dadurch das, was viele für erwartbar halten. Derzeit bedeutet dies: überdurchschnittliche Studienleistungen, Praxiserfahrungen, und ein Aufenthalt im Ausland, dazu Leistungswille, Zielgerichtetheit und Analysefähigkeit." Ergebnis dieses "Lebenslauf-Wettrüstens": für 73 Prozent ist das Studium ganz oder teilweise "eine Zeit, in der ich unter hohem Druck stehe und mich ständig beweisen muss." Dabei haben überraschenderweise nur 26 Prozent der Befragten das feste Ziel, Karriere zu machen. Heisst: Ihnen fehlt schlicht die Idee einer Alternative.

Ansätze dafür finden sich im hinteren Teil des Heftes. Thees Uhlmann von Tomte erklärt im Mensa-Interview: "Die Uni machte mich fertig" und wie er deshalb Musiker wurde. Der Zeit-Finanzkorrespondent Robert von Heusinger hält in seiner Kolumne den Ratschlag "Investieren Sie in Bier!" bereit: "Woher soll die Kreativität kommen, die sich später einmal auszahlen kann, wenn Kino, Theater und Kunstausstellung gestrichen werden, nur um monatlich 30 oder 50 Euro zur Bank zu tragen? Ich zähle selbst das philosophische Gespräch bis morgens um fünf in der Kneipe eindeutig zu den Investitionen." Unsere Rede!

Und genau in diese Kerbe schlägt auch der geschätzte Lord Ralf Dahrendorf im Interview, das man eigentlich am Stück zitieren möchte. Hier nur die Highlights: "Es ist skandalös, wenn inflexible Systeme Menschen in einem ganz bestimmten Bereich festhalten und es ihnen schwer machen, den Weg zu gehen, auf dem sie ihr Bestes geben können." Auf die Frage, ob man einfach das machen soll, was einem Spass macht: "Ja, aber nicht in dem Sinne, in dem das in Zeiten der New Economy gesagt wurde. Spass muss es machen, aber es kommt vor allem darauf an, dass ihr etwas tut, wo ihr euer Bestes geben könnt, wo ihr euch wirklich engagiert, weil es nicht zufällig daherkommt. Die entscheidende Frage ist: Wie will ich sein? Nicht: Was will ich sein." Schliesslich: "Ein Hauptmerkmal der Vernunft ist, dass man nicht mit 22 darauf schielt, möglichst viel Geld zu verdienen, sondern weiter als die nächsten zwei oder drei Jahre denkt. Etwas, das von aussen für die nächsten Jahre als vernünftig angesehen wird, ist auf lange Sicht vielleicht unvernünftig." Bingo! Von den Alten lernen heisst, die digitale Bohème verstehen lernen.


Kommentar #1 von susa:

..Von den Alten lernen heisst, die digitale Bohème verstehen lernen..
Genau. Nämlich als den alten Hut, der sie ist. Nur mit neuer Technik...

27.11.2006 | 18:48

Kommentar #2 von antek:

bleibt locker. wenn ihr ein vollendetes gesellschaftsmodell verlangt, dann baut euch gefälligst eins. seit euer eigenes vorbild und lasst euch sehen wo ihr könnt. aber hört auf zu nöhlen!

28.11.2006 | 08:45

Kommentar #3 von martin:

ich habs interview auch gelesen und fand es ausnahmsweise mal ganz vernünftig, was dahrendorf da erzählt hat.

23.02.2007 | 15:31

Kommentar #4 von Max:

"Ein Hauptmerkmal der Vernunft ist, dass man nicht mit 22 darauf schielt, möglichst viel Geld zu verdienen, sondern weiter als die nächsten zwei oder drei Jahre denkt"
schon klar, wenn man helfer aller art sucht, die man dann nicht bezahlen will. mit vernunft hat das wenig zu tun, schon eher mit ausbeutung und dummenfang! viel spass dabei. es finden sich sicher genung.

05.06.2007 | 18:53

Kommentar #5 von DrNI@Gsallbahdr:

Ein naturwissenschaftliches Studium war schon immer keine Party. Jetzt wird auch in den Geisteswissenschaften richtige Arbeit verlangt, und auch noch viel davon. (Ich habe selbst ein BA/MA Studium erfolgreich absolviert, inkl. allem Stress.)
Es hängt also nicht allein an Consulting-Firmen sondern auch an der Uni selbst. Dort wird zunehmen ein Umschwung von Bildung auf Ausbildung absolviert, mit dem Resultat ähnlicher Soft-in-the-Head Absolventen wie an der FH. Die können nur machen, was man ihnen befohlen hat, selber denken is nicht. (Klar, es gibt Ausnahmen, auf beiden Seiten.)
Zeit Campus ist wie die meisten Karriereblubberblätter hochgradig widerlich und führt bei mir schnell zu Brechreiz. Immer wird vom Aufstieg gefaselt – doch Hierarchien sind Bäume wie in der Linguistik, da sind die Blätter unten. Für jeden, der aufsteigt, steigen auch dutzende nicht auf. Und wie hoch ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass man eher unter den Dutzenden ist?
Noch schlimmer sind da nur die Karriereberater von MLP. Da geht einem das Licht ganz aus. Doch hier hilft folgender Trick: Frühzeitig im Gespräch erwähnen, dass man eine akademische Laufbahn an der Uni plant. Dann beenden Sie die unfreiwillige Beratung dezent und zeitnah.

02.09.2009 | 10:38